Der Polizist baut sich vor unserem Auto auf und signalisiert uns auszusteigen. Sich nähernd, schmettert er mir Sätze auf Persisch an den Kopf. Der Taxifahrer hatte mich zuvor unerlaubterweise an einer Kreuzung ins Auto gelassen und war prompt von dem bärtigen Gesetzeshüter an den Straßenrand gewunken worden. Als ich den Polizisten verständnislos anblicke, merkt er, dass ich khariji bin, ein Ausländer.
„Ich bin Journalist aus Deutschland“, erzähle ich ihm in gebrochenem Persisch. Der Polizist ist nicht älter als Mitte Zwanzig. „You are from Germany?“ fragt er mich. Die Lage hat sich im Handumdrehen entspannt.
„We love Europe and America“, strahlt er. „And Bayern Munich“, fügt er hinzu. Nach kurzer Musterung meines Reisepasses zerreißt er den vorbereiteten Strafzettel. „Welcome to Iran“, verkündet er grinsend und breitet dabei feierlich seine Arme aus.
Heute allerdings ist der Antiamerikanismus eine der letzten ideologischen Bastionen, an die sich die Regierung klammert. Doch auch die freitäglichen Hasspredigten der Mullahs können nicht darüber hinwegtäuschen, dass im Iran die wahrscheinlich USA-freundlichste Bevölkerung des gesamten islamischen Mittleren Osten lebt. 2002 ergab eine Umfrage in der Bevölkerung, dass zwei Drittel der Menschen eine Wiederaufnahme der Beziehungen mit Washington befürworten. Zwar ließ die Regierung die Verantwortlichen der Umfrage wegen staatsfeindlicher Propaganda festnehmen, an der öffentlichen Meinung änderte dies freilich nichts.
An der prestigeträchtigen Universität von Teheran erzählt mir eine Gruppe StudentInnen, wie sie noch am Abend der Angriffe vom 11. September 2001 zu Tausenden auf die Straßen geströmt seien, um mit Lichterketten ihre Solidarität mit den US-Amerikanern kund zu tun. „Wir hassen die Amerikaner nicht“, sagt Imaneh, 20. „Wir bewundern sie.“
Wenn die Jugend von einem Leben im Westen träumt, dann nicht nur, weil auch sie gerne Eminem und Britney Spears hört. Die Geschichte der Islamischen Republik ist auch die Geschichte des wirtschaftlichen Zerfalls eines Landes, in dem das Pro-Kopf-Einkommen vor der Revolution noch auf derselben Höhe mit Ländern wie Spanien lag.
In einem Land, in dem 70 Prozent der Bevölkerung unter 25 sind, müssten jährlich 800.000 Arbeitsplätze geschaffen werden, um die Nachfrage zu befriedigen. In der jetzigen Situation eine Utopie. „Wir sind die verlorene Generation“, sagt die 20-jährige Politikstudentin Elaheh. „Wir haben weder Jobaussichten, noch dürfen wir uns abends in einer Diskothek den Frust von der Seele tanzen.“
Die Perspektivlosigkeit einer ganzen Generation ist einer der Hauptbeweggründe, der Tausende jährlich zum Drogenkonsum treibt. Rauschgift sei hier billig und leicht zu beschaffen, sagt ein Sprecher des UN-Drogenbekämpfungsprogramms (UNODC). Eine der Hauptrouten des internationalen Drogenhandels führt von Afghanistan und Pakistan bis in die Türkei genau durch den Iran. Die Abhängigkeit unter Jugendlichen gehört, laut einer Statistik des UNDOC-Büros in Teheran, zu den höchsten weltweit.
Vor 26 Jahren haben die Mullahs die Macht ergriffen. Stück für Stück haben sich die Jugendlichen inzwischen viele Freiheiten zurück erkämpft. „Vor wenigen Jahren hätten wir es nie gewagt, unsere Kopftücher so zu tragen wie heute“, erzählt mir Azadeh. Sie ist 30 und Modedesignerin. In ihrer Boutique, im schicken Norden von Teheran, zeigt sie mir ihre letzte Kreation: Den J-lo Manto. Der Manto ist jenes Gewand, welches über der normalen Kleidung getragen wird, um die Körperformen zu verhüllen. Der J-lo Manto, in Anlehnung an die amerikanische Pop-Sängerin Jennifer Lopez, hat die Besonderheit, unter dem Stoff ein die Brust nach oben drückendes eingeflochtenes Gestänge aufzuweisen. Ein islamischer Wonderbra sozusagen. „Darin würde sogar Jennifer Lopez gut aussehen“, zwinkert sie mir neckisch zu. „Der wahre Jihad (der ‚Heilige Krieg‘; Anm.) findet in den Straßen unserer Metropolen statt“, fügt sie hinzu. „Sie verbieten, wir weichen aus, sie verbieten aufs Neue, und schon haben wir die nächste Antwort parat.“
Durch dieses Katz und Maus-Spiel entsteht eine mannigfaltige Palette an Subkulturen, manche ausschließlich virtuell über Chaträume und Weblogs im Internet, andere in Wohnzimmern oder Hinterhöfen.
Und in den Bergen! Hunderte Teheraner Jugendliche strömen jedes Wochenende zu einer der vielen Wanderrouten des Alborz-Gebirges, das sich nördlich der Hauptstadt majestätisch aufrichtet. Im Schutze des Alborz, fernab vom strengen Auge der Mullahs, schaffen hier Woche für Woche junge Menschen eine Welt ohne Sittenwächter und Religionshüter. Freimütig flirten Burschen und Mädchen, veranstalten Picknicks und spielen Beatles-Songs auf ihren Gitarren.
Mehdi und Shiva, beide 21-jährige Studierende aus Teheran, haben sich hier vor über einem Jahr zum ersten Mal verabredet, nachdem sie sich zuvor in einem Chatraum kennen gelernt hatten, erzählen sie Händchen haltend. Ganz normal sei das, meint Mehdi, viele Pärchen würden so zueinander finden. „Wir haben halt keine Diskotheken so wie ihr“, meint Mehdi. Internetcafés haben dafür Hochkonjunktur.
Während des Aufstiegs kommen wir an etlichen schön dekorierten Hütten mit dicken Sitzkissen und flauschigen Kuschelecken vorbei. Das Publikum ist im Durchschnitt kaum älter als 20. Die Revolution und die ideologischen Exzesse ihrer Eltern interessieren hier niemanden mehr. „Die Generation der unter 20-Jährigen hat weniger Angst als wir“, erzählt mir Kaveh, ein 27-jähriger Elektroingenieur. Als er vor ein paar Jahren mit seiner Freundin spazieren ging, hätten ihn so genannte Revolutionswächter aufgegriffen und mitgenommen, weil sie sich, obwohl unverheiratet, an den Händen gehalten hatten. Drei Wochen habe er im Gefängnis verbracht, sei geschlagen und gedemütigt worden. Heute kommt so etwas kaum mehr vor.
Schon eher müssen sich Geistliche damit anfreunden, auf dem Heimweg manchmal stundenlang am Straßenrand zu stehen, weil sie von den Taxifahrern einfach ignoriert werden.
Im Sammeltaxi zurück in die Stadt steigt nach einer Weile ein solcher ein. „So können wir ihnen wenigstens ab und zu eins auswischen“, sagt mein Sitznachbar, kurz bevor sich der Mullah in das bereits voll gepackte Auto zwängt. Als er eingestiegen ist, wird es still im Taxi. Interessiert nehme ich die veränderte Atmosphäre zur Kenntnis. Nach ein paar Minuten murmelt eine junge Frau, kaum älter als Anfang 30, etwas von dem Dreck auf den Straßen und wie die Regierung die gesamte Bevölkerung in ihrem eigenen Schmutz ersticken lässt. „Und der Verkehr erst“, fügt der Fahrer hinzu. „Schämen sollten sie sich“, keift die Frau den Geistlichen nun offen an. „Was habt ihr nur mit unserem Land gemacht!“
In Iran ist die Hoffnung auf die Reformierbarkeit des Systems, die 1997 den moderaten Präsidenten Khatami ins Amt getragen hatte, inzwischen politischer Apathie gewichen. Bei den letzten Parlamentswahlen hatten lediglich die konservativen Geistlichen ihre Wählerschaft zu mobilisieren gewusst. Die wichtigsten Studentenorganisationen dagegen hatten zum Boykott aufgerufen, nachdem der einflussreiche Wächterrat über 2.500 reformorientierten KandidatInnen die Teilnahme an den Wahlen versagt hatte. Hatten 1997 noch weit über 80% der Bevölkerung an den Urnengängen teilgenommen, so waren es 2004 gerade noch 30%.
Doch wie sieht es im Rest des Landes aus, weitab von der schicken und emanzipierten Nord-Teheraner Elite? In der zentraliranischen Stadt Isfahan, laut den Iranern die schönste Stadt der Welt, gehe ich abends auf Erkundungstour. Meine Begleiterin hatte mich gewarnt, dass ihre hier ansässige Familie, wie die meisten Menschen außerhalb Teherans, noch viel traditionsbewusster sei als die Hauptstädter, und so hatte ich mich auf eine sanfte Version der progressiven Teheraner Jugend eingestellt. „Teheran light“ sozusagen. Jedoch weit gefehlt. In den Gassen und Straßen der tatsächlich umwerfend schönen Stadt drängen sich am Abend hunderte junge Menschen. Junge Männer und Frauen, die aussehen, als ob sie gerade in Mailand von einem Modedesigner gekleidet worden wären, lachen und flirten in und vor den vielen Eiscafés. Der einzige erkennbare Unterschied ist die subtile Art und Weise, mit welcher die Geschlechter ihr Interessen an einander kundtun – denn auch hier gehen die Sittenwächter auf Patrouille.
Etwas abseits, an einer wenig begangene Straße, steht ein solcher. Grünes Hemd, schwarze Hose und Hut, sieht er für mich eher ulkig als Furcht einflößend aus. Die Straße sei bekannt als Ort, an dem sich Burschen und Mädchen aus ihren Autos beäugen, erklärt man mir. Falls Interesse besteht, gibt dies die eine Partei, meist die jungen Männer, durch Signale mit der Lichthupe zu verstehen. Man folgt einander in eine Seitenstraße, tauscht Telefonnummern aus, und beginnt das Spiel von vorne. Tatsächlich fällt mir auf, dass meist Gruppen von Jungen oder Mädchen immer wieder wenden und die Straße aufs Neue auf und ab fahren.
Was passiert wenn die Sittenpolizei einen ertappt und ob es ihnen persönlich schon widerfahren sei, möchte ich wissen. Sie lachen. Natürlich sei es ihnen schon passiert. Jedem Einzelnen. „Erwischt dich die Polizei, nehmen sie dich mit auf die Wache und behalten dein Auto für ein paar Tage“, sagt Hamid. „Erwischen dich die Basiji, die freiwilligen Revolutionshüter, musst du mit Schlägen rechnen.“ Darüber redet Hamid nur ungern, zu demütigend sei es. Einschüchtern lässt er sich trotzdem nicht.
Zurück in Teheran staune ich über die Anzahl iranischer Fernsehsender, die junge, spärlich bekleidete Iranerinnen zu moderner Popmusik mit persischem Einschlag über den Bildschirm hüpfen lassen. Alles aus Amerika, erklären meine Gastgeber augenzwinkernd. Fernsehanstalten und Radiosender: die iranische Diaspora, die vorwiegend aus Los Angeles sendet, hat sich bestens organisiert. Es gibt nichts, was es nicht gibt in „Tehrangeles“, grinsen meine Freunde, und dank der Millionen Satellitenschüsseln, die über iranischen Dächern befestigt sind, kann sich jeder auf Knopfdruck selbst davon überzeugen. Von iranischem Rap bis zu sinnlichen Balladen bietet sich dem Zuschauer, der Zuschauerin eine Welt, die gegensätzlicher nicht sein könnte: Im Iran dürfen Solosängerinnen, und seien sie noch so verhüllt, öffentlich nicht singen, geschweige denn tanzen.
Nicht nur der Gesang unterläge strenger Zensur, klagt Elnaz, 23-jährige Kunststudentin aus Teheran. Wenn im Unterricht Portrait malen auf dem Stundenplan steht, sehen sich die angehenden KünstlerInnen meist einer streng verschleierten Frau gegenüber, die als Modell dienen soll. Verbote machen kreativ, erklärt Elnaz dann aber unverblümt, und lädt mich kurzerhand zu einem privaten Treffen ein, an dem Studierende füreinander Modell stehen. Kurz zögere ich, aber der Gedanke, einem iranischen Religionswächter erklären zu müssen, was ich in einem Raum voller spärlich gekleideter KunststudentInnen zu suchen habe, lässt mich die Einladung ablehnen.
Im Iran ist die Frustration, verbunden mit dem Kollaps der Reformbewegung, in politisches Desinteresse seitens der Jugend umgeschwenkt. Doch die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. Vor allem die Frauen sind es, die einen täglichen Kampf gegen die Obrigkeit führen. „Lipstick Jihad“, frei übersetzt Glaubenskrieg des Lippenstifts, beschrieb dies kürzlich die Journalistin und Autorin Azadeh Moaveni in ihrem eben erschienenen Buch über die iranische Jugend. Sie schildert darin den täglichen Kampf junger Iranerinnen um jeden Zentimeter mehr Haar und weniger Kopftuch. Selbst die Breite des Eyeliners ist ein politisches Statement. Die iranische Jugend hat gelernt, für ihre Ideale zu kämpfen.
AutorenInfo:
Der Autor ist gebürtiger Münchner und hat einen Master of Science-Abschluss in Internationaler Politik von der School of Oriental and African Studies in London. Er arbeitete bei der UNO in Thailand und ist für den Europa-Bereich der NGO „Iranian Alliances Across Borders” (www.iranianalliances.org) verantwortlich.